Donnerstag, 21. August 2014

Rezension: Anima von Wajdi Mouawad

Ich weiß nichtmal mehr genau, wie ich auf „Anima“ von Wajdi Mouawad stieß, es interessierte mich aber von Anfang an und war dann gleich eine spontane Bestellung und Belohnung an mich. Damit habe ich mir faszinierende Lesestunden gekauft mit einem Buch, das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.

„Anima“ von Wajdi Mouawad
448 Seiten
16,90 € (Klappbroschur)









Die Frau von Wahsch Dibsch wurde brutal ermordet, er selbst fand sie in ihrer gemeinsamen Wohnung in Montréal auf und bricht völlig zusammen. Der Mörder steht schnell fest, entzieht sich jedoch in einem Indianerreservat der Polizei. Um dieses Trauma zu verarbeiten, möchte Wahsch dem Mörder seiner Frau einmal in die Augen blicken. Er reist quer durch Amerika auf der Suche nach dem brutalen Täter.

Die titelgebende Besonderheit dieses Buches ist die Erzählperspektive: Wahschs Reise wird nicht von ihm selbst erzählt, sondern von unzähligen Tieren, die ihn auf seiner Reise beobachten. Die Hauskatze sitzt dabei, als er seine Frau auffindet, beim Gespräch mit einem Pathologen kreist ruhig der Goldfisch im Glas und bei Gesprächen auf der Straße sind dutzende Straßentauben anwesend. Jedes Kapitel wird aus der Sicht eines anderen Tieres berichtet und schon anhand des Schreibstils sind die unterschiedlichen Charaktere der Tiere zu erkennen, ein absolut faszinierender Aufbau.
Der Goldfisch zum Beispiel ist selbstbewusst und beschreibt sich und seine Welt ruhig, gediegen und nahezu majestätisch.

„Ich bin der Größte. … Mein Lebensraum ist unermesslich endlos und verläuft an den Rändern.“ 
S. 19

Der Hund ist nervöser, angespannter und deutlich mehr auf die Menschen fixiert.

„Da ich diejenige, die mir mit erhobenem Zeigefinger bedeutet hatte, vor dem Eingang des Supermarkts auf sie zu warten, abgöttisch liebe, wagte ich nicht, gegen unsere Abmachung zu verstoßen und zu ihm zu laufen, obwohl ich den unbändigen Drang verspürte, ihn zu beschnüffeln, mich an ihn zu schmiegen, bei ihm zu sein.“
S. 17

Dadurch, dass das Buch aus dutzenden sehr kurzen Kapiteln besteht, entsteht ein ganz besonderer Sog. Noch schnell ein Kapitel, noch schnell erfahren wo und mit welchem Tier es weitergehen wird. Dazu kommen tolle Charaktere, die man gern verfolgt, und deren interessante Gespräche spannend zu belauschen sind. Eine wirklich gelungene Mischung.
Die Kapitel sind übrigens immer mit dem lateinischen Namen der Tiere überschrieben, man kann also erst im Anhang des Buches schauen, welches Tier an der Reihe ist, oder das anhand des Textes erraten.
Ein spanneder Aufbau und abwechslungsreicher Erzählstil, Charaktere die interessant sind, das könnte perfekt werden. Ein großes Manko hat für mich „Anima“ bei aller Begeisterung aber doch: die Geschichte ist zum Teil unfassbar brutal. Da kommen widerstreitende Gefühle zu all der Begeisterung: Ekel, Abscheu, Wut. Manche Teile scheinen nötig zu sein, gerade im Hinblick auf die Beschreibung von Wahschs Vergangenheit, die im Buch später eine zentrale Rolle spielt und eine Verbindung zu seinem aktuellen Leiden erhält. Ob dabei aber in dieser Genüsslichkeit den brutalen und brutal-sexistischen Szenen gefrönt werden muss, weiß ich nicht.

Für mich waren es unterm Strich 4 von 5 Leseratten, für schwache Nerven ist es dabei allerdings nichts und je empfindlicher der Leser, desto mehr leidet vermutlich der Lesegenuss bei diesem Buch.


Das Buch in einem Tweet: Ein dutzend tierischer Stimmen erzählt die Geschichte in „Anima“. Das ist faszinierend und manchmal trotzdem nichts für schwache Nerven.

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