Ich habe mich ja regelrecht gewehrt „Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie“ zu lesen. Also klar, der Titel hat mich von Anfang an angezogen, ein erster kurzer Blick in die Leseprobe wirkte mir aber zu wirr… „Geek“, „Traumkindchen“ … huch, was ist das denn? Dann hat aber der Berlin Verlag auf Twitter derart viel über den Roman erzählt und mir so den Mund wässrig gemacht, dass ich nicht anders konnte, als es doch zu lesen. Ein Glück!
„Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie“ von Katherine Dunn
Berlin Verlag
512 Seiten
22,99 € (Hardcover)
Der Wanderzirkus Binewski läuft nicht mehr so gut, als Vater Binewski auf die Idee kommt, sich eine eigene Freakshow zu züchten. Gesagt getan: er und seine Frau Lil beeinflussen ihre Schwangerschaften mit radioaktiven Substanzen, Pestiziden und Drogen. Immer in der Hoffnung echte Freaks zu bekommen. Die Ergebnisse sind nicht zu verachten. Da haben wir Arturo („Arty“), den sogenannten „Aqua Boy“, der ohne Arme und Beine dafür mit vier kräftigen Flossen zur Welt kam. Die siamesischen Zwillinge Electra („Elly“) und Iphigenia („Iphy“), der telekinetisch begabte Fortunato („Chick“) und die Erzählerin der Geschichte: Olympia („Oly“), eine bucklige Kleinwüchsige mit Albinomutation. Olympia ist es schließlich auch, die die Geschichte vom Auf- und Untergang des Wanderzirkus Binewski erzählt, von den großen Erfolgen zu den menschlichen Dramen.
„Binewskis“ ist kein Roman in den man mal so einfach nebenbei starten kann, dafür ist er am Anfang doch ein wenig störrisch. Aber keine Angst: mehr als 20 - 30 Seiten braucht es nicht, bis man endgültig in der Geschichte steckt. Sobald ich mit den Charakteren und der Erzählsituation einigermaßen vertraut war, lief die Geschichte wie ein Film vor mir ab.
Olympia erzählt die Geschichte ihrer Familie im Nachhinein, verwebt dabei geschickt ihr gegenwärtiges Leben mit den Erinnerungen an die glorreiche Zeit der Familie. Toll ist, dass beide Zeitebenen sich parallel spannend entwickeln und nicht wie in anderen Büchern ein Handlungsstrang störend oder uninteressant wirkt. Die Themen „Normalität“ und „Schönheit“ (bzw. Schönheitswahn) verbinden beide Erzählebenen und treten offen oder zum Teil versteckt immer wieder im Roman auf. Ich habe mich häufig in der witzigen, absurden Handlung verloren, ohne viel zu hinterfragen, was dahinter steckt. Meist kommt dann unvermittelt doch wieder ein Moment, der einem die Wahrheit hinter dem Spaß vor Augen führt. Manchmal schleichen sich kleine Erkenntnisse mitten ins Herz, manchmal springt einen die große Botschaft geradezu an. Wirklich beeindruckend. Die Momente in denen ich „Ja, genau so ist das.“ gedacht habe, konnte ich nicht wirklich zählen.
Neben all dem Spaß und Witz sind es dabei einfach immer wieder die traurigen und dramatischen Szenen gewesen, die mich die Protagonisten (allen voran die Erzählerin Oly) sehr ins Herz haben schließen lassen. Wie die Umwelt z.T. auf die Binewskis reagiert, hat mich unfassbar traurig gemacht, die Liebe die aber innerhalb der Familie immer wieder durchscheint war einfach anrührend.
Neben all der erzählerischen Qualität: Erzählweise, Charaktere, Spannung, Herz, Witz(!) hat mich auch die sprachliche Qualität des Buches schwer beeindruckt. Die Sätze wirken manchmal verwinkelt, manchmal kurz und drängend, immer passend zum Handlungsverlauf. Und schon durch die gewählte Sprache wirkt das Buch einfach wertvoll und macht keine billige Freakshow aus der Handlung.
Ich finde es unfassbar schwierig (und sitze jetzt seit ungefähr 3 Stunden an dieser kleinen Rezension) alle Facetten des Buches irgendwie in einem Text zu erfassen. Deswegen schreibe ich heute auch etwas freier von der Leber weg, kann weniger „analysieren“ oder erklären, als ich das sonst versuche.
„Binewskis“ ist für mich ein Buch, das man gelesen haben muss, um diese Faszination zu verstehen. Vorher klang es für mich einfach nach einer schrägen Geschichte, vielleicht sogar etwas zu hochtrabend geschrieben. Ich habe mich geirrt. Und jetzt, nach der Lektüre, ist es mir auch kein so großes Rätsel mehr, warum das Buch in Amerika, zum ursprünglichen Erscheinen, so einen Hype auslöste. 1989 erschienen, hat das Thema auch heute nichts von seiner Aktualität verloren, im Gegenteil: Schönheitswahn und der Kampf der „Unnormalen“ in einer auf Äußerlichkeiten ausgerichteten Gesellschaft sind heute so allgegenwärtig wie nie zuvor.
Dieses Buch zu bewerten ist (für mich) nahezu unmöglich. Rein objektiv müsste ich vielleicht für den schweren Start und den etwas hölzernen ersten Eindruck einen „Punkt“ abziehen. Allein, das kann ich nicht. „Binewskis“ hat mich überzeugt und bewegt, zum Grübeln gebracht und mir nebenbei noch Spaß gemacht. 5 von 5 Leseratten
„Binewskis: Verfall einer radioaktiven Familie“ von Katherine Dunn
Berlin Verlag
512 Seiten
22,99 € (Hardcover)
Der Wanderzirkus Binewski läuft nicht mehr so gut, als Vater Binewski auf die Idee kommt, sich eine eigene Freakshow zu züchten. Gesagt getan: er und seine Frau Lil beeinflussen ihre Schwangerschaften mit radioaktiven Substanzen, Pestiziden und Drogen. Immer in der Hoffnung echte Freaks zu bekommen. Die Ergebnisse sind nicht zu verachten. Da haben wir Arturo („Arty“), den sogenannten „Aqua Boy“, der ohne Arme und Beine dafür mit vier kräftigen Flossen zur Welt kam. Die siamesischen Zwillinge Electra („Elly“) und Iphigenia („Iphy“), der telekinetisch begabte Fortunato („Chick“) und die Erzählerin der Geschichte: Olympia („Oly“), eine bucklige Kleinwüchsige mit Albinomutation. Olympia ist es schließlich auch, die die Geschichte vom Auf- und Untergang des Wanderzirkus Binewski erzählt, von den großen Erfolgen zu den menschlichen Dramen.
„Binewskis“ ist kein Roman in den man mal so einfach nebenbei starten kann, dafür ist er am Anfang doch ein wenig störrisch. Aber keine Angst: mehr als 20 - 30 Seiten braucht es nicht, bis man endgültig in der Geschichte steckt. Sobald ich mit den Charakteren und der Erzählsituation einigermaßen vertraut war, lief die Geschichte wie ein Film vor mir ab.
Olympia erzählt die Geschichte ihrer Familie im Nachhinein, verwebt dabei geschickt ihr gegenwärtiges Leben mit den Erinnerungen an die glorreiche Zeit der Familie. Toll ist, dass beide Zeitebenen sich parallel spannend entwickeln und nicht wie in anderen Büchern ein Handlungsstrang störend oder uninteressant wirkt. Die Themen „Normalität“ und „Schönheit“ (bzw. Schönheitswahn) verbinden beide Erzählebenen und treten offen oder zum Teil versteckt immer wieder im Roman auf. Ich habe mich häufig in der witzigen, absurden Handlung verloren, ohne viel zu hinterfragen, was dahinter steckt. Meist kommt dann unvermittelt doch wieder ein Moment, der einem die Wahrheit hinter dem Spaß vor Augen führt. Manchmal schleichen sich kleine Erkenntnisse mitten ins Herz, manchmal springt einen die große Botschaft geradezu an. Wirklich beeindruckend. Die Momente in denen ich „Ja, genau so ist das.“ gedacht habe, konnte ich nicht wirklich zählen.
Neben all dem Spaß und Witz sind es dabei einfach immer wieder die traurigen und dramatischen Szenen gewesen, die mich die Protagonisten (allen voran die Erzählerin Oly) sehr ins Herz haben schließen lassen. Wie die Umwelt z.T. auf die Binewskis reagiert, hat mich unfassbar traurig gemacht, die Liebe die aber innerhalb der Familie immer wieder durchscheint war einfach anrührend.
Neben all der erzählerischen Qualität: Erzählweise, Charaktere, Spannung, Herz, Witz(!) hat mich auch die sprachliche Qualität des Buches schwer beeindruckt. Die Sätze wirken manchmal verwinkelt, manchmal kurz und drängend, immer passend zum Handlungsverlauf. Und schon durch die gewählte Sprache wirkt das Buch einfach wertvoll und macht keine billige Freakshow aus der Handlung.
Ich finde es unfassbar schwierig (und sitze jetzt seit ungefähr 3 Stunden an dieser kleinen Rezension) alle Facetten des Buches irgendwie in einem Text zu erfassen. Deswegen schreibe ich heute auch etwas freier von der Leber weg, kann weniger „analysieren“ oder erklären, als ich das sonst versuche.
„Binewskis“ ist für mich ein Buch, das man gelesen haben muss, um diese Faszination zu verstehen. Vorher klang es für mich einfach nach einer schrägen Geschichte, vielleicht sogar etwas zu hochtrabend geschrieben. Ich habe mich geirrt. Und jetzt, nach der Lektüre, ist es mir auch kein so großes Rätsel mehr, warum das Buch in Amerika, zum ursprünglichen Erscheinen, so einen Hype auslöste. 1989 erschienen, hat das Thema auch heute nichts von seiner Aktualität verloren, im Gegenteil: Schönheitswahn und der Kampf der „Unnormalen“ in einer auf Äußerlichkeiten ausgerichteten Gesellschaft sind heute so allgegenwärtig wie nie zuvor.
Dieses Buch zu bewerten ist (für mich) nahezu unmöglich. Rein objektiv müsste ich vielleicht für den schweren Start und den etwas hölzernen ersten Eindruck einen „Punkt“ abziehen. Allein, das kann ich nicht. „Binewskis“ hat mich überzeugt und bewegt, zum Grübeln gebracht und mir nebenbei noch Spaß gemacht. 5 von 5 Leseratten
Das Buch in einem Tweet: Die "Binewskis" passen nicht in einen Tweet! Einfach völlig unmöglich. Zu viel wichtige Botschaft, Herz, Witz und Spannung für 140 Zeichen.
Eine schöne Rezension zum Buch, die noch dazu mit tollen Zitaten aufwartet, hat auch Buzzaldrin verfasst. Hier entlang.